WHITE FROST "Nellys Traum"

Leseprobe - Kapitel 1:

1


Der Schnee fiel immer dichter. Der Mann runzelte die Stirn und schlug einen schnelleren Schritt an. Er ignorierte die romantische Stimmung, die durch die vorweihnachtliche Dekoration in den Straßen hervorgerufen wurde. Er hastete die Straße entlang und blickte an jeder Querstraße suchend auf die Straßenschilder. Hoffentlich würden diese Wetterverhältnisse seine Rückkehr nicht verzögern. Er schaute in den Stadtplan, bog in eine kleine Seitengasse ab, wechselte einige Male gezielt die Richtung und überquerte eine Brücke. Von der vorweihnachtlichen Stimmung der Einkaufsstraße, in der er sich vor wenigen Augenblicken noch befunden hatte, war hier nichts mehr zu spüren. Seine Augen mussten sich erst an die schummrige Straßenbeleuchtung gewöhnen. Eine grell geschminkte, und für diese Wetterverhältnisse spärlich bekleidete Frau kam auf ihn zu. Die schwarzen Lackstiefel glänzten. Ein Zeichen dafür, dass sie selten auf der Straße getragen wurden. Der knallrote Lederrock liess keine Zweifel offen, was sie von ihm wollte. Mit einem vielsagenden Lächeln versperrte sie ihm den Weg und drängte sich an ihn. Verärgert blieb er stehen und musterte sie. Ihre Kleidung und ihr Angebot waren eindeutig. Bei anderer Gelegenheit wäre er sicher nicht abgeneigt gewesen, obwohl er Besseres gewohnt war. Heute aber kam es darauf an, dass er unerkannt blieb. Nur deshalb hatte er Amsterdam als Treffpunkt zugestimmt. Er lehnte mit einer eindeutigen Handbewegung ab und versuchte, seinen Weg schnell fortzusetzen. Die Frau rempelte ihn an und rief ihm einige Worte zu, die er nicht verstand. Gut so, denn sie waren sicher alles andere als höflich. Er fluchte leise und blickte sich unauffällig um. Die Frau war verschwunden und die Gasse menschenleer. Nur ein kleiner Straßenköter wühlte in den Müllresten, die an einer Hausecke lagen.

Die Schilder an den Hauswänden waren verwittert, aber noch lesbar. Der Mann kämpfte sich durch die Dunkelheit und den dicht fallenden Schnee. Ihm war unwohl zumute. Die alten Straßenlaternen beleuchteten die Gasse nur wenig. Die Häuser hatten schon bessere Zeiten gesehen. In einigen wenigen Fenstern standen Leuchter, die an das kommende Weihnachtsfest erinnerten, aber die meisten Bewohner hatten keine Zeit für Weihnachtsdekoration verschwendet. Der Mann hastete weiter. Der ungepflegte Straßenköter, der eben noch den Müll untersucht hatte, lief auf ihn zu und schnüffelte kurz an seiner Hose. Schimpfend stieß er ihn unsanft zur Seite. Der Hund quiekte auf und trollte sich.

Zwei Gestalten kamen ihm direkt entgegen. Er tastete unter seinem Mantel nach seinem Messer. Nicht, dass er davon Gebrauch machen wollte. Aber man konnte ja nie wissen - in dieser Gegend. Rasch lief er in einen Hauseingang und wartete, bis die beiden Männer verschwunden waren. Die Wände des Hauses waren über und über mit Namen, Herzen und offensichtlich auch Telefonnummern beschmiert. Er unterdrückte ein Würgen, als ihm der penetrante Geruch von Urin in die Nase stieg. Um sich abzulenken, blickte er noch einmal auf den Stadtplan. Zufrieden stellte er fest, dass er nicht mehr weit von dem markierten Kreuz entfernt sein konnte.

Er zog seine Kapuze tiefer in das Gesicht. Mit der rechten Hand öffnete er seinen Mantel und tastete nach den beiden dicken Umschlägen. Es waren schon für weit geringere Summen Morde begangen worden. Er konnte nur hoffen, dass er unauffällig genug wirkte. Unruhig hastete er weiter. Die Gasse endete in einer Querstraße. Suchend überquerte er die Straße und drehte dann um. Er musste an der Kneipe, in der er verabredet war, vorbei gelaufen sein. Langsam ging er die Strecke zurück und sah sich Hauseingänge und Hinterhöfe genauer an.

Da! In diesem Hinterhof erblickte er in der schummrigen Beleuchtung über der Tür eines alten Hauses das gesuchte Schild: "Flying Dutchman". Das dargestellte Schiff und die Schrift waren kaum noch zu erkennen. Er blickte sich noch einmal zögernd um und betrat dann den Hinterhof. Von den Fensterläden war die Farbe abgeblättert. Die Scheiben starrten vor Schmutz. Die Hauswände wiesen deutliche Spuren von Urin auf. Der Geruch vermischte sich mit dem von verfaultem Fisch, Erbrochenem und anderem Unrat, der vermutlich in den überquellenden Mülltonnen vor sich hinmoderte. Der Mann unterdrückte mühsam ein Würgen und sah an sich hinunter. Gut, dass er seine abgetragensten Sachen angezogen hatte. Seine ursprünglich helle Jacke wies einige Dreckspuren auf und die Turnschuhe waren nicht nur verschmutzt, sondern auch extrem wasserdurchlässig.

Er tastete noch einmal nach dem Messer in seinem Gürtel, zog die Mütze unter seiner Kapuze tief in das Gesicht, öffnete die Tür und trat langsam ein. Der Raum war klein. Die Schiffslampen an den Wänden boten eine schummrige Beleuchtung. Die Luft war verqualmt. Es roch nach einer Mischung aus Rauch und Alkohol, aber das war immerhin angenehmer als der Gestank draußen im Hinterhof. An den Wänden hingen maritime Bilder, doch das Glas war lange nicht mehr geputzt worden. Die massiven Holztische waren bereits durch unzählige Schnitzereien der Gäste verunstaltet. Der Boden aus Schiffplanken war nicht mehr holzfarben, sondern schwarz und ausgetreten. "Hier werden Geschäfte gemacht, von denen keiner erfahren darf", dachte er und musterte die Anwesenden.

Die vier Personen hatten sich alle zu ihm umgedreht und blickten ihn gelangweilt an. An der Theke saß ein alter Mann mit dichtem ungepflegtem Bart, auf dessen Armen kaum noch Haut zu erkennen war. Er war über und über tätowiert. Der Mann neben ihm blickte ihm aus glasigen Augen entgegen. Das Bier, das ihm der Wirt gerade reichte, war mit Sicherheit nicht das erste an diesem Abend.

An einem der Tische saß ein weiterer Mann hinter einer Zeitung. Mehr als eine blaue Wollmütze war von ihm nicht zu erkennen. In diesem Moment blickte er über den Rand der Zeitung, warf einen deutlichen Blick auf seine Armbanduhr und wies mit einem Nicken auf den leeren Platz. "Karl Meyer", stellte sich der Neuankömmling vor und setzte sich. Das Gesicht hinter der Zeitung verzog sich zu einem Grinsen.
"Soso, Karl", entgegnete er auf Deutsch, "nenn mich Sascha." Der Mann, der sich als Karl Meyer vorgestellt hatte, musterte sein Gegenüber. Die Freundlichkeit war ebenso falsch wie sein Name. Die Augen hinter den Brillengläsern verrieten, dass er keinen Spaß verstand, wenn jemand anderer Meinung war als er.

Mit einem kurzen Handzeichen orderte "Karl" ein Bier, das ihm sofort gebracht wurde. Sascha griff in seine Jackentasche und stellte eine kleine Flasche auf den Tisch. Sie war mit einer Pipette verschlossen und hatte einen Inhalt von exakt 30 ml. Durch das durchsichtige Glas schimmerte eine hellgelbe Flüssigkeit. Als "Karl" danach greifen wollte, legte Sascha schnell seine linke Hand auf die Flasche und schüttelte missbilligend den Kopf. Mit der rechten Hand legte er die Zeitung auf den Tisch. "Karl" verstand, zog einen dicken Umschlag aus der Tasche und schob ihn darunter. "Die Hälfte jetzt, die andere Hälfte, wenn es funktioniert," murmelte er. Sein Gegenüber ließ die Flasche zurück in seine Jackentasche gleiten.
"Das war nicht abgemacht. 100 % sofort. Oder du suchst dir einen anderen Geschäftspartner." Er machte Anstalten, aufzustehen und wurde wie erwartet zurückgehalten.
"Nicht so schnell, ich bin ja interessiert. Aber woher weiß ich, dass du nicht nur ins Fläschchen gepinkelt hast?"
Die Augen hinter den Brillengläsern verzogen sich amüsiert. "Kein Vertrauen, Partner? Dieses Zeug ist sein Geld wert. Es war schwerer zu beschaffen als erwartet. Das Labor hatte fast alles vernichtet. Pass also gut darauf auf, für die nächste Flasche bezahlst du mindestens das Doppelte."
"Karl" merkte, dass Verhandeln keinen Sinn hatte. Er zog einen zweiten Umschlag aus der Tasche und legte ihn unter die Zeitung. Sein Gegenüber nickte, warf einen kurzen, zufriedenen Blick auf den Stapel 100-DM-Scheine, steckte ihn ein und schob die Flasche über den Tisch.
Die beiden Männer grinsten sich vielsagend an. "Sascha" stand auf und verabschiedete sich. "Wenn du weitere Aufträge hast, weißt du, wie du mit uns Kontakt aufnehmen kannst." "Aufträge welcher Art?" Sascha sah ihn kalt an.
"Alles außer Mord. Wobei wir diese Art Aufträge gegen eine kleine Provision weiter leiten können." Dem Mann lief es kalt über den Rücken. Mord! In welche Szene war er hier geraten?! Sascha bemerkte sein Unbehagen und sagte:
"Manche Zeitgenossen sind unangenehm. Wenn man sie risikolos beseitigen kann, warum eigentlich nicht?", murmelte er undeutlich, drehte sich um und ging. "Karl" ging an die Theke und stürzte kurz nacheinander vier Genever hinunter. Danach fühlte er sich etwas besser.

Als er die Kneipe verließ, hatte sich auf dem Hof bereits eine Schneedecke gebildet. Saschas Spuren waren wieder zugeschneit. Der Gestank im Hinterhof fiel ihm nicht mehr auf. In Gedanken versunken lief er den Weg zurück. In der Jackentasche hielt er das kleine Fläschchen fest umklammert. Man musste die richtigen Leute ansprechen. Dann ließen sich viele Probleme lösen.

Als er die verwinkelten Gassen verließ und auf die belebte Einkaufsstraße einbog, hielt er kurz inne. Die grelle Beleuchtung blendete ihn und der Lärm schmerzte in seinen Ohren. Es war wie in einer anderen Welt. Erleichtert schlenderte er weiter und mischte sich unter die Menschen, die die Straße entlang eilten und der märchenhaften Szenerie ebenso wenig Aufmerksamkeit schenkten wie er selber. Der Geruch von Nüssen und Mandeln hing in der Luft und vermischte sich mit dem Duft von Glühwein. Einige Straßenmusikanten spielten "Jingle Bells" und im dicht fallenden Schnee wirkte die Stadt wie im Traum. Ein Weihnachtsmann hielt ihm mit einem lauten "Ho Ho Ho" eine Rute vor die Nase. Verärgert fegte er die Rute mit einer Handbewegung zur Seite. Die Menschen hasteten hektisch an ihm vorbei, auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken für ihre Lieben.
"Weihnachtsgeschenke", murmelte er schadenfroh und seine Hand schloss sich ein wenig fester um die kleine Flasche in seiner Jackentasche. Gedankenverloren setzte er seinen Weg zum Parkhaus fort.

Im Auto nahm er das Fläschchen aus der Tasche und betrachtete es lange. Es war randvoll mit der gelblichen Flüssigkeit. Lächelnd hielt er die Flasche gegen das Licht. Ein paar Tropfen nur. Niemand würde etwas merken, niemand würde Verdacht schöpfen. Denn was er vorhatte, erschien unmöglich. Und doch war es ein einfacher Plan. Einfach. Und genial. "Frohe Weihnachten, Nelly!", murmelte er. "Und ein erfolgreiches Neues Jahr, White Frost!"