Warum reagiert mein Hund aggressiv?

So etwas hat er noch nie getan, so kenne ich meinen Hund gar nicht", solche oder ähnliche Entgegnungen kennt wohl jeder Hundehalter von den täglichen Spaziergängen, wenn sich der geliebte Schmusehund auf einmal wie Rambo persönlich aufführt, knurrt und bellt, als ob er das Gegenüber am liebsten augenblicklich verspeisen möchte. Wie gut, daß er angeleint ist.... wirklich???

Wohl nur wenige Hundehalter machen sich die Mühe, das Verhalten ihres Hundes wirklich genau zu beobachten und zu analysieren. Dabei könnte man unnatürliche Aggressionsformen damit in einer frühen Phase erkennen und ihnen entgegenwirken. Aggression als solche wird von uns Menschen - bis auf wenige Ausnahmen, zum Beispiel in einigen Bereichen des Hundesportes - als negativ und gefährdend empfunden. Im Hundesport macht man sich ein natürliches Verhalten zu eigen und fördert es. Auf der Straße hingegen ist ein solches Verhalten unangenehm, striktes Gehorsam ist angesagt - welcher Hundehalter fragt da schon nach dem warum" der Reaktion seines Vierbeiners.

Aggressionen sind ein umfassendes Gebiet und gehören in den normalen Ausdrucksbereich der Hunde. Eine Aggression wird aus vollkommen unterschiedlichen Gründen ausgelöst, mit denen sich der Hundehalter aber im allgemeinen leider nicht beschäftigt. Man könnte folgende Aggressionen unterscheiden, wobei diese Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

1. Unterdrückte Handlungen und Konflikte

Bei Rudeltieren, zu denen auch die Hunde zählen, haben sich diverse Bewegungsabläufe entwickelt, die als Signale die übrige Sprache" ergänzen. Das Wegdrehen des Kopfes zum Beispiel sorgt dafür, daß der Aggressionspegel des Angreifers sinkt. Denn Augen und Gesicht, mit denen Drohungen hauptsächlich ausgedrückt werden, werden vom Angreifer abgewendet, der herannahende Konflikt im Keim erstickt.

Ein Hund, der von einem anderen angegriffen oder bedroht wird, kommt in einen Konflikt zwischen Angst einerseits und Aggression andererseits. Die Aggression kann sich, wenn der Gegner übermächtig erschient, gegen etwas vollkommen anderes richten, das der Angegriffene als weniger bedrohlich erachtet. Das kann ein weiterer, dritter Hund sein, aber auch sein Besitzer, der ja normalerweise als nicht gefährlich betrachtet wird.

Ein derart zurückgerichtetes Verhalten muß sich nicht unbedingt in Aggression äußern, sondern auch in anderen Verhaltensformen. Ein Hund, der zum Beispiel vor einer bevorstehenden Begrüßung Angst verspürt, könnte verstärkt den Kontakt zu seinem Besitzer suchen.

2. Reaktionen der Überforderung

Eine Seite des Konfliktes, die teilweise vollkommen unmotiviert und für uns unerklärlich auftaucht, sind die Reaktionen der Überforderung. Ein Hund, der sich in einem Konflikt zwischen Angst und Aggression befindet oder zwischen Angst und Neugierde, beginnt auf einmal, seine Nase zu lecken, sich zu kratzen, zu gähnen oder sich zu strecken. Dies sind die häufigsten Anzeichen, daß der Hund mit der Situation überfordert ist. Wenn Sie Ihren Hund und dessen Reaktionen genau beobachten, werden Sie schnell die kritischen Situationen erkennen und ihm in diesen Momenten Hilfestellung geben können.

3. Dominanzverhalten

Sobald ein neues Rudel entsteht, neue Mitglieder in ein bestehendes Rudel hineinkommen oder wenn das Rudel beginnt, den Rang des Alphatieres in Frage zu stellen, entstehen bedrohliche Situationen oder gar Kämpfe. Die Einleitungen zu solchen Auseinandersetzungen erlebt der Hundehalter fast täglich, wenn er mit seinem Hund spazieren geht und die Hunde frei herumlaufen. Einige Hunde sind sehr empfindlich und unsicher, wenn es darum geht, sich einzufügen, andere können sich auf Anhieb problemlos anpassen.

Grundsätzlich ist es so, daß sich gut sozialisierte Tiere sofort zurecht finden, auch wenn es für den Zuschauer gefährlich aussieht. Aber nicht jeder Hund findet sich sofort mit seinem" Rang ab, so daß es durchaus zu Kämpfen kommen kann, die im allgemeinen aber nur kurz sind. Das Problem mit dieser natürlichen Herstellung einer Rangfolge hat im allgemeinen nur der Besitzer. Insbesondere wenn kleine und große Hunde aufeinandertreffen, haben die Besitzer mehr Probleme mit der Situation als die Hunde selber. Leider kann man als Besitzer nie erkennen, ob man es mit einem gut sozialisierten Gegenüber zu tun hat. Das Anleinen seines Hundes kann in manchen Situationen durchaus ratsam sein.

Dominanzaggressionen können aber auch innerhalb der Familie entstehen, da der Hund die Familie als sein Rudel betrachtet. Es ist daher absolut wichtig, dem Hund seinen Rang im Rudel so früh wie möglich und so deutlich wie möglich zuzuweisen. Ansonsten können die Dinge schnell einen unangenehmen Ausgang nehmen. Hat der Hund (im allgemeinen gibt es mit Rüden eher derartige Probleme als mit Hündinnen) erst einmal die Rudelführung" übernommen, ist es sehr schwierig, die Rangfolge wieder zu ändern. Hierzu ist unbedingtes konsequentes Verhalten aller Familienmitglieder notwendig. Und wenn diese das bisher nicht an den Tag legen konnten, ist es fraglich, ob sie es mit dem notwendigen Durchsetzungsvermögen durchführen können. Fachkundige Hilfe kann in diesem Fall ratsam sein. Eine Dominanzaggression innerhalb der Familie erkennt man zum Beispiel daran, daß der Hund seinen Platz knurrend verteidigt oder sogar nach den Familienmitgliedern schnappt. Wichtig ist, die Rangführung des Hundes jetzt anzufechten. Ein Hund wird nicht als Rudelführer geboren, er übernimmt diese Rolle nur, wenn ihm die anderen Mitglieder zu schwach erscheinen.

Ist eine solche Situation der Rudelführung des Hundes eingetreten, ist leider in den meisten Fällen nach Ansicht der Besitzer der Hund schuld und dieser landet im Tierheim, da ein solcher Hund innerhalb der Familie als Gefahr angesehen wird. Das Fatale ist, daß diesen Besitzern mit dem nächsten Hund das gleiche Schicksal widerfahren dürfte.

4. Gebietsaggressionen

Das Gebiet ist die Gegend, die der Hund gegen jegliche Eindringlinge verteidigt. Der Hund bellt an der Tür oder am Grundstückszaun, wenn sich jemand nähert. Diese natürlich Aggressionsform wurde ebenfalls in vielen Fällen als wünschenswert angesehen und es wurde gezielt gezüchtet, um diese Wesenseigenschaft zu erhalten bzw zu verstärken. Wachhunde, die nachts frei auf einem Gelände herumlaufen, sind das beste Beispiel dafür.

Auch hier lauern Gefahren, daß der Hund die Eigenschaft, sein Territorium zu verteidigen, unangenehm verstärkt und ihn zu einem Problem werden läßt. Ein Hund, der bellt, wenn jemand am Grundstßck vorbei geht, muß korrigiert werden, ansonsten wird er das nächste Mal noch provozierender bellen. Er bekommt mehr und mehr Selbstvertrauen, denn der Eindringling" verschwindet ja, wenn der Hund bellt. Mit jedem Passanten verbucht der Hund einen Sieg. Der Hund lernt, daß Bellen und Knurren sehr effektive Handlungen sein können.

5. Angstaggressionen

Dieser Aggressionsform ist nur sehr schwer beizukommen. Wenn ein Hund Angst bekommt, versucht er, vor dem Grund davonzulaufen. Das ist das natürliche Verhalten seiner wölfischen Vorfahren. Er läuft so weit davon, bis er sich in Sicherheit glaubt. Wenn sein Fluchtweg versperrt ist, bleibt dem Hund nur ein Ausweg, dem Angstobjekt zu entkommen: indem er es angreift.

Ein Beispiel: Auf einer Ausstellung trafen sich zwei Hunde, die beide angeleint waren. Einer von beiden attackierte den anderen und verschwand dann zwischen den Beinen seines Besitzers. Ein typischer Fall von Angstaggression. Der Angreifer hatte Angst vor dem anderen, sah seinen Fluchtweg durch die Leine versperrt, griff an und suchte dann sein Heil in der Sicherheit. In diesem Fall war es erstaunlich, daß keiner die Situation erkannte, es waren alles Hundeleute dabei, Besitzer und Züchter. Trotzdem versuchte niemand, dem ängstlichen Hund zu helfen, ihm Selbstvertrauen zu geben, sondern kommentierte nur so ein Angsthase".

Ein weiteres Beispiel ist ein Hund, der sich knurrend unter dem Tisch verkriecht und auf einmal angreift, wenn man ihm den Rücken zukehrt.

Sogenannte Angstbeißer sind Hunde mit einer sehr schlechten nervlichen Konstitution. Es ist sehr schwer, einer solchen Form von Aggression beizukommen. Die Behandlung" kann darin bestehen, das Selbstvertrauen des Hundes langsam aufzubauen, indem man ihn mit unbekannten Hunden und Personen konfrontiert und versucht, die Angst des Hundes durch Ablenkung, Unterbrechungen und Loben zu überspielen. Sinnvoll kann es auch sein, den Hund durch Unterordnungsübungen abzulenken.

6. Rudelverteidigung

Eine Kombination aus Angst, Unsicherheit und Dominanz kann dazu führen, daß ein Hund seinen Besitzer, seine Familie und die Kinder vor Fremden verteidigt. Er fühlt sich für sein Rudel verantwortlich und es ist ihm durch die Zugehörigkeit zum Rudel auch nicht gestattet, wegzulaufen und Mitglieder im Stich zu lassen". Also greift er an.

Die Rudelverteidigung kann aber auch ein reines Dominanzverhalten sein. In diesem Fall ist es wichtig zu versuchen, die Angst des Hundes zu verringern und ihm verständlich zu machen, daß der Rang der übrigen Familienmitglieder höher ist. Damit liegt es im Verantwortungsbereich der Familie, die Maßnahmen zu ergreifen, die für den Rudelschutz notwendig sind. Wenn der Hund zum Beispiel angreift, wenn ein normalerweise ranghöheres" Familienmitglied anwesend ist, ist ein solches Dominanzverhalten gegeben. Der Hund muß hier zurecht gewiesen werden, um ihm seine niedrige Rangfolge klar zu machen.

7. Andere Aggressionsgründe

Aggressionen können aber auch aus anderen als den vorgenannten Gründen entstehen. Es ist immer schwierig, Aggressionen zu begegnen und sie zu beseitigen. Es ist in jedem Fall wichtig, in einem frühen Stadium um Hilfe zu bitten. Aggressionen können zum Beispiel auch durch Schmerzen und Streß ausgelöst werden. Wenn ein Hund auf einmal nach seinem Besitzer schnappt oder ihn beißt, der sich bisher als zuverlässig erwiesen und kein derartiges Verhalten gezeigt hat, sollte man klären, ob nicht ein gesundheitlicher Grund vorliegt. Ein schmerzender Zahn zum Beispiel kann durchaus zu einer solchen Reaktion führen. Hierbei ist die Behandlung einfach. Bei allen anderen Aggressionsgründen ist es jedoch sehr schwierig.

Wie aber aus dem Artikel zu sehen ist, sind viele Handlungen des Hundes, die für uns unlogisch und gefährlich erscheinen, in dem natürlichen Verhalten begründet. Und sie werden verständlich, sobald man sich eingehend mit dem Wesen des Hundes beschäftigt. Ich konnte nur kurz auf die einzelnen Formen und Reaktionen eingehen, die einen großen Bereich in der Verhaltensforschung einnehmen. Trotzdem bleibt zu hoffen, daß viele Hundebesitzer dem Ratschlag folgen werden:

Beobachtet Euren Hund - es lohnt sich!

Gaby von Döllen, Osterholz-Scharmbeck

im April 1998